OOONEHUNDREDANDEIGHTYY!

Fffump! Der dritte Metallpfeil trifft die Sisalfaserscheibe auf dem Feld mit der 20. Stefan Gutte nickt zufrieden. Lächelnd geht er zur Dartscheibe, zieht seine Pfeile heraus und wartet auf die Würfe seines Gegners. Gutte ist groß gewachsen, hat kurze graue Haare, und trägt eine Brille. Der 51-jährige Systemadministrator widmet dem Dartsport einen großen Teil seiner Freizeit. Bei wichtigen Turnieren der PDC (Professional Darts Cooperation), dem größten Darts-Verband weltweit, arbeitet er als offizieller Schreiber oder Caller auf der Bühne. Caller? Das sind die, die in Sekundenbruchteilen die Resultate ausrufen. Er muss blitzschnell Kopfrechnen, während tausende begeisterte Zuschauer singen und tanzen und die Akteure sich selber wie Popstars inszenieren.

 

Gutte spielt auch selber, fernab der großen Show. Heute tritt er beim Auswärtsspiel seiner Mannschaft, dem Dartverein Eimsbüttel, bei den Sankt Pauli Dart-Piraten an – in der Kreisliga, ganz ohne verkleidete Fans, brüllende Stars und spektakuläre Fernsehaufnahmen. Willkommen an der Basis des ursprünglichen Kneipensports!

Das Vereinsheim des FC Sankt Pauli ist gut gefüllt an diesem Dienstagabend Ende November. Einige Menschen sitzen am Tresen und unterhalten sich. Die blonde Bedienung hat gut zu tun im hellen, angenehmen Licht des Raumes. Zur kultigen Atmosphäre tragen die Backsteinwände bei. Kultig ist auch der Weg zum Ort des Geschehens. Erst einmal geht’s Richtung Toiletten. Kurz davor eine weiße Tür. Öffnet man sie, beginnt ein langer, weiß gefliester Gang. Er führt an einer Küche vorbei. An den Wänden stehen bunte Kästen: Fritz Kola und Astra. Am Ende des Ganges befindet sich eine große braune Holztür – der Eingang ins Heiligtum der Sankt Pauli-Dart-Piraten.

 

Es ist ein dunkler, in schwarz gehaltener Raum. Nur wegen der grellen Beleuchtung an der Decke kann man etwas sehen. Es ist die Mixed Zone des FC Sankt Pauli. Während die Fußballer zurzeit das Tor nicht treffen und sich nach Spielen an diesem Ort vor der Presse dafür rechtfertigen müssen, treffen die Spieler der Sankt Pauli Dart-Piraten mit ihren Pfeilen die charakteristischen schwarz-weißen Kreise. An der Wand hängen drei Scheiben, außen zwei mit einem großen roten Rand an den Seiten, in der Mitte eine kleine mit Sankt Pauli-Verzierung. Sie hat nur symbolische Aussagekraft. Gezielt wird auf die großen Scheiben. Der komplette Bereich, in dem geworfen wird, ist von schwarzen Gitterstäben umgeben. Dunkel ist es hier, ein bisschen gespenstisch. Es ist eine Welt für sich, ein Trip in den Untergrund.

 

Vom schrillen Darts-Zirkus in den großen Arenen scheint dieser Ort meilenweit entfernt. Der Eindruck täuscht: „Auch bei uns wird Darts immer offizieller, viele Vereine gründen eigene Abteilungen“, sagt Arnd Jacob, stellvertretender Abteilungsleiter der Piraten. Jacob, circa 1,80 Meter groß, eine massive Brille im Gesicht, redet langsam und wirkt fast ein bisschen gelangweilt. Dabei ist er einer der Männer, denen es gelang, Darts zum FC Sankt Pauli zu bringen. „Wir wollen dazu beitragen, dass sich unser Sport weiter verbreitet, weil er einfach toll ist.“

Dass Jacob alles andere als gelangweilt ist, wird spätestens klar, als er sich kurz vor Spielbeginn mit anderen St. Pauli Spielern in einem engen Kreis zusammenfindet. 15 Männer stehen in langen, fast kittelartigen schwarzen Trikots eng beieinander und brüllen ihren Schlachtruf: „Wir scoren und wir checken! Verbreiten Angst und Schrecken! Ergeben uns nie! Sankt Pauli!“ Der Schlachtruf nimmt für einige Sekunden den ganzen Raum ein. Auch einzelne Eimsbütteler Spieler gucken verwundert. In dieser Szene steckt viel Energie. Sie zeigt genau, was diesen Amateursport ausmacht: die Begeisterung, den Willen und die Leidenschaft, mit der alle Beteiligten dabei sind.

 

Leidenschaft für den Dartsport hat auch Kati Fischer. Die Co-Kapitänin und Kassenwartin der Dart-Piraten wurde durch ihren Freund an das Spiel mit der Scheibe herangeführt. Fischer, eine kleingewachsene, kräftige Frau, erzählt mit leuchtenden Augen: „Sobald ich die ersten drei Darts geworfen hatte, war ich vom Spiel begeistert. Es macht einfach richtig Spaß.“  

 

Die Partie hat inzwischen begonnen. Es werden immer zwei Matches nebeneinander ausgetragen. Im linken Bereich der Mixed-Zone duellieren sich zwei Dart-Piraten mit zwei in beige-rot gekleideten Eimsbüttelern. Wenige Meter daneben sitzen Spieler beider Mannschaften zusammen, unterhalten sich freundschaftlich und lachen gemeinsam. Eine zum Ambiente passende schwarze Bierzeltgarnitur steht an der rechten Wand des Raumes – die etwas andere Ersatzbank. Obwohl gerade ein Punktspiel stattfindet, hat man nicht das Gefühl, dass es sich hier um einen Wettbewerb handelt. Die Spieler strahlen eine entspannte, freundschaftliche Stimmung aus. Alles lässt auf eine lockere Freizeitbeschäftigung schließen, die Herren mittleren Alters und Jugendliche teilen.

Auf einem Tisch stehen Wasserflaschen, Limonaden und das ein oder andere Bier. Die entspannte Atmosphäre passt zum Bild des Kneipensports früherer Tage. Ein Spieler der Dart-Piraten entfernt seine geworfenen Pfeile von der Sisalfaserscheibe und nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche, während der Eimsbütteler Gegenspieler seine Pfeile wirft. „Der Alkoholkonsum ist deutlich weniger geworden. Es wird ab und zu ein Bier getrunken, aber das läuft in einem sehr gemäßigten Rahmen ab“, sagt Jacob, „noch vor zehn Jahren durfte das Bier nicht fehlen, heute läuft das anders. Wir haben eine ganz andere Verantwortung, auch weil viele Jugendliche dabei sind.“

 

Einer der Junioren heißt Joshua. Er verbindet Darts nicht mit Alkohol. „Beim Jugendtraining herrscht komplettes Alkoholverbot und bei den Herren werden während eines Ligaspiels nur ein, zwei Bier getrunken“, sagt der kleingewachsene Teenager. Man sieht ihm seine Jugendlichkeit nicht nur im Gesicht an, sondern auch in der Art, wie er sich über ein schlechtes Spiel ärgert und mit den Händen gestikuliert, wenn mal ein Pfeil schlecht trifft. Trotz seines jungen Alters weiß er genau, worum es den im Amateur-Darts geht: „Das Wichtigste ist, dass wir jeden so aufnehmen, wie er ist und uns gegenseitig respektieren. Die Gemeinschaft steht im Vordergrund und wir kommen untereinander sehr gut aus.“ Wenn Joshua von Gemeinschaft spricht, merkt man, dass es der Dartsport ist, der die Leute zusammenbringt. Es ist diese besondere Atmosphäre, die Begeisterung und ein Gruppengefühl weckt. Es ist bekannt, dass Sport verbindet. Aber hier passiert etwas Besonderes: Es treffen sich wildfremde Menschen, um gemeinsam ihrem Hobby nachzugehen. Sie tragen damit zum Boom einer Sportart bei, die vor kurzer Zeit noch in der Nische steckte.

Welche Begeisterung Amateur-Darts bei Sankt Pauli auslösen kann, verdeutlicht ein Herr mittleren Alters. Er steht im Vereinshaus beim Bier mit einem Freund: „Ich komme aus der Schweiz und bin das südlichste Mitglied der Dart-Piraten“, grinst er, „immer wenn ich im Norden bin, komme ich hier vorbei.“ Stolz zeigt er  seine Sankt Pauli Darts-Fähnchen, die Enden seiner Pfeile. Neben seinem Tisch spielen zwei Eimsbütteler Spieler gegeneinander. Zwischen Mixed Zone und Vereinsheim, an einem Seitenausgang des langen weißen Ganges, stehen Spieler beider Mannschaften und rauchen. Dass die Hauptakteure während eines Punktspiels gemeinsam an der Zigarette ziehen, sieht man auch nicht alle Tage. Egal, ob beim Plausch in der Mixed-Zone, beim Duell in der Vereinskneipe oder beim Punktspiel – der Abend eines Ligaspiels ist unterhaltsam und die Spieler haben sichtlich Spaß.

 

Im Vereinsheim sitzt jetzt Stefan Gutte und unterhält sich mit anderen Spielern. Er ist dort, wo sein Weg, der ihn bis zu den größten Turnieren führte, begann. Wie er da so steht, drängt sich der Gedanke auf: Alles beginnt im Kleinen, auch der Aufstieg des Dartsports. Die Erfolgsgeschichte startet im Amateurbereich. Auch wenn sich inzwischen einiges verändert hat – eines wird im Darts gleichbleiben: „Es wird nie ganz ohne Alkohol gehen, ein bisschen gehört irgendwie dazu.“ Meint Gutte, der Caller, und demonstriert dann, wie er bei großen Darts-Turnieren die Höchstpunktzahl ansagt: „Ooonehundretandeightyyy!“

Es ist ein kleines Detail vom großen Dartszirkus an seinem Ursprungsort. Hier, in der Vereinskneipe auf Sankt Pauli.

 

Piet Bosse