DER ADLER FLIEGT ZU WEIT

Tackling-Reporter Josef hat sich Anfang Dezember auf die Reise nach Lissabon gemacht, um sich ein Bild von der portugiesischen Fußball-Fankultur und deren Stadionbräuchen zu machen. Von Adler-Flügen über Karaoke-Fansongs bis zu kalter Wurst im Brötchen gab es einiges zu erleben!

„Todos a bordo“ tönt es monoton aus den Lautsprechern — bitte einsteigen! Ein paar Leute hechten noch gehetzt durch die sich schließenden Türen. Dann setzt sich die blaue Linie der Lissabonner Metro langsam in Bewegung und verlässt den Bahnhof „Baixa-Chiado“ in Richtung Norden. Es ist kurz nach 18 Uhr portugiesischer Zeit (eine Stunde nach der deutschen Zeit) und die Bahn ist heute gerappelt voll. Menschen aller Altersklassen drängen sich dicht an dicht in freudiger Erwartung auf das bevorstehende Event aneinander.

Es ist Spieltag in der Fußball-Champions League. SL Benfica Lissabon gegen den SSC Neapel aus Italien steht auf dem Plan. Vor diesem letzten Spieltag der Gruppenphase ist in Gruppe B noch nichts entschieden. Sowohl Benfica als auch Neapel haben bei einem Sieg das Ticket für das Achtelfinale sicher in der Tasche. Der Verlierer muss mit Blick auf das Parallelspiel der Gruppe in Kiew noch um den Einzug in die nächste Runde bangen. Es geht also um alles an diesem 6. Dezember, an dem die Temperaturen in der portugiesischen Hauptstadt mit 20 Grad alles andere als winterlich sind.

Auch ich habe ein Ticket für das große Spiel. Gemeinsam mit meinen fünf Freunden steigt die Vorfreude mit jeder Bahnstation, die wir dem Stadion näher kommen. Immer mehr Fans, geschmückt mit Schals und Trikots in den tiefen, signifikanten Rot-Tönen der Benfica, steigen zu. Um mein Wohlwollen gegenüber dem portugiesischen Rekordmeister zu signalisieren, trage ich eine knallrote Regenjacke. Zwei Haltestellen vor dem Ziel sind die Waggons bereits so überladen, dass die sichtlich genervten Fans auf dem ebenso gut gefüllten Bahnsteig auf die nächste Metro warten müssen. An der Station „Alto dos Moinhos“ angekommen setzen sich die Massen in Bewegung und wir steigen ebenfalls aus und lassen uns mit dem Strom treiben. Plötzlich treten zwei breit gebaute Polizisten in gelben Warnwesten an uns heran. „Where are you from? Italy?“, fragen die Polizisten. Erst als ich entgegne: „No, no! Germany!“ dürfen wir passieren. Eine Sicherheitsmaßnahme, um schon früh die Heim- und Gäste-Fans zu separieren. Unserer guten Stimmung tut das jedoch keinen Abbruch und als wir nach kurzer Zeit aus der Ferne die Lichter des „Estadio da Luz“ (deutsch: Stadion des Lichts) erspähen können ist der kleine Zwischenfall schnell vergessen. Nach einem kurzen Fußmarsch kommen wir am Stadionvorplatz an. Dort herrscht bereits reges Treiben. Händler versuchen marktschreierisch eigens für das Spiel angefertigte Schals zu verkaufen. Die Bedienungen der aufgebauten Bier-Buden arbeiten auf Hochtouren. Ein kleiner Junge im roten Trikot stimmt Fangesänge durch ein Mikrofon an, in welche die vorbeiziehenden Massen wohlwollend einstimmen. Es liegt etwas in der Luft. Die Lust auf einen hochklassigen Fußball-Abend ist förmlich spürbar.

Die Sicherheitskontrolle beim Einlass in die Arena ist dann ein Witz. Wobei, nicht einmal das ist sie. Es gibt sie schlichtweg nicht. Wir halten lediglich unsere ausgedruckten Tickets unter einen Barcode-Scanner und schon sind wir drin. Kein Abtasten, keine prüfenden Blicke, keine Kontrolle. Man hätte also praktisch alles mitnehmen können zu diesem Großereignis, zu dem mehr als 55.000 Menschen zusammen kommen. Gerade in Zeiten akuter Terror-Gefahr ein beunruhigender Gedanke. Doch das kann unsere Laune ebenso wenig trüben. Euphorisch erklimmen wir eine Treppenstufe nach der nächsten auf dem Weg zu unseren Sitzen: Rang 3, Block 20, Reihe N. Gegenüber der Haupttribüne nehmen wir im oberen Stadion-Drittel Platz und sind begeistert von dem Ausblick, der sich uns bietet. Das Estadio da Luz wirkt gigantisch groß und auch die Übersicht über das Spielfeld ist beeindruckend. Hungrig von dem Marsch beschließen wir, uns zunächst mit den kulinarischen Gegebenheiten der portugiesischen Fußballwelt vertraut zu machen. Wie bei allen Spielen der UEFA Champions League wird auch heute keinerlei Alkohol ausgeschenkt. „Schade“, denken wir uns. Bei den nicht vorhandenen Sicherheitskontrollen hätten wir uns das Bier ja einfach mitbringen können. So bestellen wir einen Kaffee und zu essen gibt es ein sogenanntes Cachorro. Der Kaffee entpuppt sich dann als Espresso im Mini-Becher und das Cachorro als eine Art Hot Dog. Bloß mit kalter Wurst und kleinen Kartoffel-Sticks, statt Röstzwiebeln und Gurke — na klasse.

Wieder zurück auf den Plätzen entschädigt uns aber eine ganz besondere Show für die suboptimale Mahlzeit. Ein leibhaftiger Adler (das Wappentier der Benfica) wird von der Haupttribüne aus los gelassen und beginnt durchs Stadion zu fliegen. Ein Traum, wie das mächtige Tier unbeeindruckt von der Kulisse seine Flügel schlägt und genau zu wissen scheint, was es da gerade tut. Der Legende nach bedeuten zwei Stadion-Runden des Adlers einen Heimsieg, während bei nur einer Runde eine Niederlage der Gastgeber prophezeit wird. Der Vogel scheint einen guten Tag zu haben. Er schwingt sich noch zu einer zweiten Runde durch die Arena auf, ehe er auf einem in der Platzmitte aufgestellten Benfica- Wappen landet und genüsslich den dort auf ihn wartenden Lachs verspeist. Es ist also alles angerichtet für ein großartiges Spiel. Die hiesige Fan-Hymne ertönt aus den Stadion-Lautsprechern. Parallel dazu läuft der passende Songtext im Karaoke-Stil über die Video-Leinwände und viele nehmen die visuelle Unterstützung in Anspruch. Komische Anhänger, die nicht einmal den Text des eigenen Liedes zu kennen scheinen. Vielleicht ist der Text aber auch einfach nicht so leicht zu merken — wie auch immer. 

Die Mannschaften betreten den Rasen. Benfica, wie könnte es anders sein, in rot und weiß, Neapel ganz in schwarz. Auch die mitgereisten Anhänger der Italiener sind größtenteils komplett schwarz gekleidet. Eigentlich ungewöhnlich, ist die Farbe der Napoli doch normalerweise ein strahlendes Himmelblau. So wirkt der Gästeblock fast ein wenig bedrohlich, wie er dort dunkel und eng zusammen unter dem Dach des Stadions formiert ist.

Zurück zum Geschehen. Nach dem bei Champions League-Spielen obligatorischen Gänsehaut- Moment, in dem die glorreich klingende Hymne des Wettbewerbs gespielt wird, folgt heute ein weiterer Augenblick, der einem die Nackenhaare aufstellt. Es gibt eine Schweigeminute, in welcher den Opfern des Flugzeugabsturzes in Kolumbien gedacht wird. Im Stadion ist es schlagartig so leise, dass man beinahe den Adler seinen Fisch knabbern hören kann. Ein bewegendes Schauspiel, welches nach der Minute des Schweigens in tosenden Applaus übergeht. Dann ist endlich der Moment gekommen, um die Partie anzupfeifen. Das Spiel beginnt rasant. Beide wollen gewinnen. Beide spielen den Ball schnell nach vorn. Trotz einiger Chancen auf beiden Seiten geht es zur Halbzeit torlos in die Kabinen. Bevor die zweite Hälfte beginnt, stimmt der Stadionsprecher einen Fan-Gesang an, welcher nur langsam auf die Anhänger überschwappt. Auch hier scheinen die Massen auf den Rängen Starthilfe zu benötigen, um die Liebe zu ihrem Verein kund zu tun. Im Laufe des zweiten Durchgangs geben die Portugiesen das Spiel dann allmählich aus der Hand. Neapel übernimmt die Kontrolle und geht nach einer Stunde folgerichtig in Führung. Der Spanier José Callejon überlupft Torwart Ederson mit ganz viel Gefühl und verneigt sich anschließend dankend vor dem Gästeblock. Daraufhin kommt auf den Rängen südländisches Temperament zum Vorschein. Die heimischen Zuschauer sind unzufrieden mit der Leistung ihres Teams und schimpfen bei jeder missglückten Aktion wüst in Richtung Spielfeld. Beide Mannschaften scheinen sich jedoch immer mehr mit dem Ergebnis anzufreunden. Dadurch, dass Kiew gegen Beşiktaş Istanbul zeitgleich deutlich führt, stünden sowohl Neapel, als auch Benfica Lissabon gemeinsam im Achtelfinale — unabhängig vom Ausgang der eigenen Partie. Die Akteure auf dem Rasen nehmen nach und nach das Tempo heraus und so streichen die Minuten ereignislos dahin. Erst ein Genie-Streich des eingewechselten Dries Mertens bringt wieder etwas Leben ins Spiel und die Italiener mit 2:0 in Front. Der Belgier tänzelt nach 79 Minuten elegant durch den Strafraum und streichelt die Kugel dann gekonnt neben dem linken Pfosten ins Netz. Das Tor scheint endgültig die Entscheidung gebracht zu haben. Viele Fans der Benfica verlassen vorzeitig frustriert das Stadion. Und auch wenn Raul Jiménez kurz vor Schluss noch den Anschlusstreffer zum 1:2 erzielen kann, verlieren die Portugiesen heute unter dem Strich hochverdient.

Der Adler hätte also lieber eine Runde weniger gedreht. Wobei: vielleicht hat auch er nur versucht, dieses eigenartige Publikum ein wenig in Schwung zu bringen. 

 

Josef Huth

Tackling-Reporter Josef (3. von rechts) mit seinen Freunden im "Estadio da Luz".
Tackling-Reporter Josef (3. von rechts) mit seinen Freunden im "Estadio da Luz".